Jacqueline Kalberer und ich haben uns schon lange, bevor sie als selbstständige Sexualtherapeutin gearbeitet hat, kennengelernt. Wir haben von 2007-2009 zusammen die Schweizerische Textilfachschule STF besucht. Als ich im Rahmen unserer Ausbildung zur «Fashion Spezialistin» an einem Fashiondesign-Wettbewerb in Frankfurt teilnahm, hat sie mich sogar als Model begleitet.
Obwohl wir uns in der letzten Zeit nicht mehr so oft gesehen haben, ist der Kontakt glücklicherweise nie ganz abgebrochen und ich konnte ihre berufliche Weiterentwicklung von der Ferne her mitverfolgen, nicht zuletzt dank Social Media.
Die dreiundvierzigjährige Strahlefrau ist aktuell nicht nur als selbstständige Sexualtherapeutin tätig, sondern bildet sich auch noch weiter als Traumatherapeutin und im Spirituellen Coaching.
Heute möchte ich sie im Rahmen meiner Interview-Serie «Selbstständig werden» zu ihrem spannenden Weg in die Selbstständigkeit befragen.
Wie lange bist Du schon selbstständig erwerbend und womit verdienst Du genau Dein Geld?
Ich bin seit 4 Jahren selbstständig als Dipl. Sexologin MA. Das bedeutet, dass ich hauptberuflich in meiner Praxis im Ärztehaus Rappi als Sexualtherapeutin arbeite und dort Einzelpersonen und Paare in Sexual- und Beziehungsthemen begleite. Andererseits bin ich auch als Sexualpädagogin an Schulen und Behinderteninstitutionen unterwegs, leite Workshops, Vorträge und Elternabende.
Nebenbei habe ich gerade bei der Gesundheit Schwyz «dingsbums» eine einjährige Mutterschaftsvertretung à 20% als Sexualpädagogin an Schulen angetreten. Bei der Sexuellen Gesundheit Zürich (SeGZ) bin ich als freischaffende Sexualpädagogin tätig – dort habe ich aber nur sporadisch Einsätze.
Bis vor kurzem arbeitete ich auch noch zu 20% in meinem Erstberuf als Primarlehrerin – zum Teil auch, um mir die Anfangsphase der Selbstständigkeit zu finanzieren und mich somit finanziell etwas abzusichern.
Wie bist Du dazugekommen; war es mehr Zufall, oder ein Plan, eine Vision, eine Strategie?
Als Therapeutin zu arbeiten war schon immer ein Traum von mir!
Nach der Matura besuchte ich aber erstmal das Primarschulseminar in Schaffhausen und arbeitete im Anschluss 9.5 Jahre als Primarlehrerin. Weil ich meiner kreativen Seite mehr Raum geben wollte, absolvierte ich berufsbegleitend den Studiengang „Fashion Assistant“ an der Textilfachschule in Zürich. Auf der Suche nach einer neuen Herausforderung, wechselte ich im Anschluss in die Leitungsposition einer Offenen Jugendarbeit, wo ich 7.5 Jahre tätig war. Während dieser Zeit und nach diversen vertiefenden Weiterbildungen, begann ich das Masterstudium in Sexologie, das ich nach 4 Jahren erfolgreich abschliessen konnte.
Aktuell bin ich zudem an der Ausbildung zur „Traumatherapeutin SE“ nach Peter Levine und vertiefe die Ganzheitlichkeit des beruflichen Ansatzes im Studiengang „Spirituelles Coaching“ bei Zen-Meisterin Anna Gamma in Luzern.
Da es nur wenige Festanstellungen im sexologischen Bereich gibt, war für mich der Weg in die Selbstständigkeit klar
Festanstellungen im sexologischen Bereich gibt es leider nur wenige. So war für mich der Weg in die Selbstständigkeit wie klar. Zudem bin ich auch gerne meine eigene Herrin und Meisterin. Wobei mir die Arbeit im Team aber schon auch sehr wichtig ist.
Wie hat Dein Umfeld auf Deine Entscheidung, Dich selbstständig zu machen, reagiert?
Eigentlich durchwegs positiv! Vor allem mein Mann hat mich immer sehr darin bestärkt und unterstützt. Viele fanden es recht mutig und haben mich für diesen Schritt gar bewundert.
Gab es einen Schlüsselmoment, wo Du wusstest «Jetzt habe ich es geschafft»?
Wann hat man – äh, frau – es geschafft?
Ich bin dankbar für all die wunderbaren Menschen, die ich auf ihrem Weg begleiten darf
Eine grosse Frage… Ich glaube, das sind Momentaufnahmen: Wenn ich nach einer Beratungssitzung auf dem Heimweg über den Seedamm in Rapperswil fahre und mich so richtig von Freude erfüllt und im Herzen berührt fühle – unendlich dankbar für all die wunderbaren Menschen, die ich auf ihrem Weg begleiten darf!
…oder wenn ich mit Schüler*innen sexualpädagogisch arbeite und ihre aufmerksamen Gesichter und geröteten Wangen sehe, sie unzählige Fragen haben, Gedanken und Sorgen äussern… Dann fühlt es sich wie «ich habe es geschafft» an. Nämlich in Dankbarkeit darüber, einen Beruf auszuüben, der so bewegen kann – auch mich selber immer wieder von Neuem.
Was waren die grössten Hürden auf diesem Weg?
Die grössten Hürden «waren» nicht, sondern die «sind» es auch immer wieder jetzt noch: Vertrauen in sich selber und die Zukunft zu haben, mutig zu sein, loszulassen…
Es braucht Mut, das sichere Fahrwasser zu verlassen, loszulassen auch in Bezug auf die finanzielle Sicherheit
Zu Vertrauen und offen zu sein, dass es so, wie es kommt, gut ist. Dass es stets einen Weg, beziehungsweise eine Lösung gibt, vorausgesetzt, dass immer auch ein Wille, Offenheit und Flexibilität dafür vorhanden sind. Mutig zu sein, neue Wege einzuschlagen und das sichere Fahrwasser zu verlassen. Loszulassen auch in Bezug auf die finanzielle Sicherheit und zwischendurch mal etwas sparsamer und mit weniger unterwegs sein zu müssen – natürlich mit dem klaren Ziel des Traumberufes vor Augen.
Ich kam zwischendurch immer wieder an meine energetischen Grenzen
Die Übergangsphase war zeitweise recht harzig. Da liefen viele verschiedene Aufgaben parallel – nicht zuletzt, um meine finanzielle Situation abzusichern. Da kam ich schon mal an meine energetischen Grenzen. So musste ich mir immer wieder vor Augen führen, dass es eine Übergangsphase zu etwas Neuem ist. Übergangsphasen sind nicht immer so angenehm…
Der Lockdown im vergangenen Frühjahr hat innert Kürze nach einer flexiblen Lösung verlangt. So habe ich auf Video-Meetings umgestellt und feststellen müssen, dass dies – trotz einiger Bedenken im Vorfeld – eine weitere Möglichkeit ist, die ich mittlerweile nicht mehr missen möchte.
Denkst Du, es ist schwieriger, sich als selbstständig erwerbende Frau zu behaupten? Gibt es eventuell auch Vorteile, oder hast Du das Gefühl, dass das Geschlecht keine Rolle spielt?
In meinem Berufsfeld ist es schwieriger als Sexualpädagogin Fuss zu fassen, als für einen Mann. Denn es gibt leider auch einfach viel mehr Frauen, die diesen Beruf ausüben – somit sind Männer gerade in Festanstellungen viel häufiger gefragt.
Es kommt stark auf das jeweilige Berufsfeld an
Was die Selbstständigkeit als Sexualtherapeutin betrifft, so denke ich, kommt es auch stark auf das jeweilige Berufsfeld an. Ich persönlich verspüre als selbstständige Sexologin keine Nachteile als Frau. Es kommt hier meiner Meinung nach weniger auf das Geschlecht, als vielmehr auf die Person selber an und was sie an Empathie und Erfahrung ausstrahlt, wie und wo sie Werbung für sich macht, ob sie sich stetig weiterbildet und auch persönlich weiterentwickelt etc.
Mir fällt aber auf, dass Frauen tendenziell weniger Mut haben in die Selbstständigkeit zu treten, als Männer. Frauen trauen sich oftmals weniger zu, sind ängstlicher und vorsichtiger – leider. Das kann natürlich verschiedene Gründe haben, aber das würde jetzt den Rahmen hier sprengen.
Was würdest Du Frauen empfehlen, die sich gerne selbstständig machen möchten?
Es braucht Mut und vor allem ganz viel Herzblut für den Beruf selbst. Wenn du das hast, dann lege los!!
Was erhoffst du dir von der Selbstständigkeit und wie viel bist Du bereit dafür zu investieren?
Stell dir zentrale Fragen wie: «Was erhoffe ich mir von der Selbstständigkeit und wie viel bin ich bereit, gerade in der Übergangsphase, an Energie, Zeit und Geld dafür zu investieren? Klingt es einfach nur schön, seine eigene Chefin zu sein oder bin ich mir auch aller Konsequenzen und anfallenden Aufgaben bewusst?» Selbstständigkeit braucht enorm viel Selbstdisziplin. Gerade auch weniger vorgegebene Alltagsstrukturen zu haben und sich dann nicht im Tag zu verlieren – das ist nicht immer leicht und auch nicht für jede gleich geeignet. Auch der ganze administrative Aufwand wie Rechnungen schreiben, Buchhaltung führen usw., benötigt zusätzliche Zeit oder Klärung, wer das für einen übernehmen kann.
Einen Plan B zu haben ist nie falsch
Einen wohlüberlegten Budgetplan braucht es sicherlich für das erste Jahr und einen Plan B, falls es finanziell noch nicht so läuft, wie es wünschenswert wäre.
Vielleicht zeigt sich auch – wie bei mir – dass es in der Anfangsphase einen «Zweitjob» braucht, um sich über Wasser zu halten, jedoch mit dem klaren und motivierenden Ziel vor Augen seinen Traumberuf zu leben.
Gibt es etwas, was Du uns gerne auf den Weg mitgeben möchtest?
Gerade weil die Anfangszeit sehr intensiv ist, gilt es sich auf allen Ebenen gut zu schauen: Körper und Geist (Hirn) sollen in Einklang bleiben. «Selbst» und «ständig» als Attribute zu «Selbstständig», entspricht sehr oft der Realität.
Sei frech, wild und wunderbar
Gerade deswegen ist die häufig angesprochene Work-Life-Balance zentral. Auch Ruhepausen wie Lesen, Yoga, Kuscheln, Nichtstun, Sport, Meditation und natürlich Sex, sollen den Weg in die Agenda finden, damit sie nicht vernachlässigt werden vor lauter (Kopf-)Arbeit.
…und ansonsten – wie sagte Astrid Lindgren so schön: «Sei frech, wild und wunderbar!»