Ottilie W. Roederstein kenne ich leider nicht persönlich, aber die freischaffende Malerin hat mich vom ersten Moment an fasziniert, als ich von ihr vernommen habe. Das war an der Pressekonferenz zu der Ausstellung «Im Herzen wild» des Kunsthaus Zürich.
Im Gespräch mit Pressesprecher Björn Quellenberg erwähnte ich, dass ich auch schon über das Kunsthaus geschrieben hätte, beispielsweise über «Wilhelm Leibl» oder über das «Kunst-Stück» und dass ich momentan gerade eine Serie über freischaffende Frauen plane. Darauf erzählte er mir, dass am 17. Dezember die Werkschau der aussergewöhnlichen Ottilie W. Roederstein beginne. Sie ist die erste Malerin, die wirklich «frei» geschaffen hat, entgegen allen Erwartungen der Gesellschaft. Sie hatte ihre eigene Bildsprache, ihre eigene Handschrift und sich in einem männerdominierten Markt durchgesetzt. Und sie lebte mit einer freischaffenden Frau zusammen, Elisabeth H. Winterhalter, die ersten Chirurgin Deutschlands.
Das klingt nach spannendem Stoff; nicht wahr? Das ist es auch!
Also bin ich mit meiner Zeitreisemaschine gut 100 Jahre in die Vergangenheit gereist und habe diese eindrückliche Freelancerin und Wegbereiterin für viele selbstständig erwerbende weibliche Kunstschaffende zum Interview getroffen.
Ottilie, wie lange bist Du schon selbstständig erwerbend und womit verdienst Du Dein Geld?
Ich bin – und das soll jetzt nicht eingebildet klingen – eine der ersten freischaffenden Malerinnen. Anfangs verdiente ich mein Geld vor allem mit Kunstunterricht, dann kamen Auftragsarbeiten dazu, vor allem Porträtbilder, und inzwischen konnte ich schon viele meiner Werke für gutes Geld verkaufen; ich bin finanziell unabhängig.
Ich arbeitete bewusst für den Kunstmarkt
Ich arbeitete vor allem anfangs bewusst für den Kunstmarkt. So informierte ich mich über die die neusten Tendenzen bezüglich Themen und Stilen und orientierte mich an ihnen, so dass ich meine Werke auch effektiv verkaufen und meine Rechnungen bezahlen konnte.
Wie bist Du dazugekommen; war es mehr Zufall, oder ein Plan, eine Vision, eine Strategie?
Ich bin die Tochter des Kaufmannes, Reinhard Roederstein. In meiner Zeit war für Rolle der Frau meines Standes keine Berufstätigkeit vorgesehen. Man hatte zu heiraten, Kinder zu bekommen und sich um den Haushalt zu kümmern.
Meine Leidenschaft fürs künstlerische Gestalten erwachte, als der Schweizer Künstler Eduard Pfyffler 1868/69 unsere Familie porträtierte. Da war ich knappe 10 Jahre alt. Mich faszinierte, wie er mit Pinsel, Farbe und Leinwand unsere Familie festhalten konnte und der Wunsch dies zu erlernen und damit mein eigenes Geld zu verdienen manifestierte sich langsam aber sicher.
Der Plan diesen Weg einzuschlagen keimte also schon sehr früh in mir. Es war mir aber durchaus bewusst, dass ich grosse Hürden überwinden werden müsste…
Wolltest Du schon immer selbstständig erwerbend sein?
Das ist schwierig zu beantworten. Ich wollte einfach das Handwerk der Malerei erlernen und mein eigenes Geld verdienen, so dass ich nicht abhängig von den Konventionen der Gesellschaft, respektive einem Ehemann war. In diesem Sinne wahrscheinlich schon.
Wie hat Dein Umfeld auf Deine Entscheidung, Dich selbstständig zu machen, reagiert?
Hier müsste man wahrscheinlich eher fragen, wie das Umfeld auf meinen Wunsch, berufstätig zu sein, reagiert hat. Und nicht nur, auf den Wunsch, berufstätig zu sein, sondern als Malerin zu arbeiten. Denn Frauen in dieser Branche waren nicht wirklich gut angesehen. Der Beruf als Malerin galt als dilettantisch und war mit vielen Vorurteilen behaftet. Die meisten Frauen, die als Malerinnen arbeiteten, kamen aus Künstlerfamilien, da gab es eine gewisse Toleranz.
Vor allem meine Mutter wehrte sich stark gegen meinen Ausbildungswunsch
Nicht aber so bei mir: Ich entspringe einer Kaufmannsfamilie, mein Vater war Vertreter einer Textilfirma. Er war deshalb gar nicht begeistert, dass seine Tochter eine Ausbildung machen wollte, und dann noch im Bereich der Kunst. Es war aber vor allem meine Mutter Alwina, die sich stark gegen meinen Ausbildungswunsch wehrte.
Dass ich diesen Weg dennoch beschreiten konnte war mehr «Glück im Unglück». Da meine Familie unseren Porträtmaler Eduard Pfyffler gut kannte, durfte ich, als ich 17 war, bei ihm Unterricht nehmen. Als meine ältere Schwester Johanna den Kaufmann Ernst Voss heiratete und nach Berlin zog, war das meine Chance. Man erlaubte mir, mit ihr nach Berlin zu ziehen und dort das Damenatelier des anerkannten Porträtmalers Karl Gussows zu besuchen. Da war ich 20 Jahre alt.
Eine meiner Mitstudentinnen war Annie Hopf. Auch sie war Schweizerin, aus Thun, und schnell freundeten wir uns an. Ich denke, meine Eltern hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits etwas mit meinem Wunsch abgefunden, begeistert waren sie nicht; vielleicht eher resigniert, weil sie sahen, dass ich mich nicht von meinem Weg abbringen liess. So stimmten sie dann auch dem Umzug nach Paris zu, ein Plan, den ich zusammen mit Annie geschmiedet hatte. Da war ich 23.
Das Paris dieser Zeit war für uns Frauen ein Traum, wir durften sogar Fahrrad fahren!
Annie und ich wohnten zusammen in Paris, der Kunstmetropole schlechthin, studierten aber an verschiedenen Schulen. Die Ecole des beaux-arts zu besuchen war uns leider nicht gestattet, sie unterrichteten keine Frauen. Viele angesehene Künstler boten jedoch Kunstunterricht für Frauen an, der notabene viel teurer war, als jener für unsere männlichen Kollegen. Aber wir waren einfach dankbar, in dieser wundervollen Stadt studieren zu dürfen. Das Paris dieser Zeit war für uns Frauen ein Traum. Die Luft war erfüllt mit Kunst und Kreativität, und wir hatten so viel mehr Freiheiten als zu Hause. Wir konnten beispielsweise Fahrrad fahren, das war damals für Frauen überhaupt keine Selbstverständlichkeit.
Auch waren die Menschen viel aufgeschlossener. Es gab sogar privat organisierte gemischte Akt-Kurse. Normalerweise waren Akt-Kurse den Frauen verwehrt, geschweige denn gemischte Kurse. Aber die Männer liessen uns meist in Ruhe arbeiten. Selten gab es ein paar Querulanten, die uns mit faulem Obst beschossen.
Eine grosse moralische Stütze war auch meine «bessere Hälfte», Elisabeth H. Winterhalter. Ich lernte sie 1885 in Zürich kennen. Sie ist Münchnerin und studierte an der Universität Zürich Medizin, da Frauen in Deutschland nicht zum Medizinstudium zugelassen waren. Sie wurde die erste Chirurgin Deutschlands, und hat mich immer ermutigt und unterstützt, trotz, oder vielleicht gerade wegen den beruflichen Schwierigkeiten, denen sie sich selber stellen musste. In Paris lernte ich Jeanne Smith und ihre Schwester Madeleine Smith-Champion kennen, und es entstand eine lebenslange Freundschaft. Sie haben stets an mich geglaubt.
Gab es einen Schlüsselmoment, wo Du wusstest «Jetzt habe ich es geschafft»?
Ich glaube als Künstler würde man wohl nie von sich behaupten «es geschafft zu haben». Ich denke genau die Absenz dieses Gefühl trieb mich an, stets noch besser zu werden und über mich hinauszuwachsen.
Natürlich gab es Momente der Bestätigung, wie beispielsweise als ich 1889 im Schweizer Pavillon der Pariser Weltausstellung ausstellen durfte und meine drei Gemälde mit einer Silbermedaille prämiert wurden. Das war auf jeden Fall ein wichtiger Schritt in meiner Karriere und wohl auch der Moment, wo meine Eltern merkten, dass ich vielleicht ein bisschen Talent besass. Im ersten Moment freute ich mich sehr über die Auszeichnung, aber danach übermannten mich einmal mehr Selbstzweifel und ich hatte das Gefühl, ich hätte die Medaille gar nicht wirklich verdient.
Obwohl ich mich eigentlich immer sehr selbstbewusst darstelle, dominieren Selbstzweifel mein ganzes Leben.
Rückblickend darf ich aber behaupten, dass ich es sicher geschafft habe, als freischaffende Künstlerin und autonome Person mein Geld zu verdienen, mit dem, was ich am liebsten mache, der Malerei.
Was waren die grössten Hürden auf diesem Weg?
Wo soll ich da bloss beginnen…
Die erste Hürde ist mein Geschlecht und meine Herkunft: Ich bin eine Frau aus einer Kaufmannsfamilie, und eine Karriere als Malerin war wohl das Letzte, was für mich vorgesehen war.
Akt-Kurse galten als unsittlich, Historienmalerei verlangten nach Fantasie, die man uns absprach.
Dann natürlich das ganze System. Wir Frauen wurden nicht an die öffentlichen Kunstakademien zugelassen, Akt-Kurse galten als unsittlich, wir sollten uns auch nicht in der Historienmalerei vertiefen, der höchstangesehen Gattung der Malerei unserer Zeit, denn diese verlange Fantasie und Vorstellungskraft, welche man uns absprach. Wir waren höchstens als Kopistinnen toleriert, wir durften Stillleben malen, allenfalls noch Porträts, denn das war ja lediglich das Abmalen etwas von etwas, was man sieht, und brauche kein Vorstellungsvermögen.
Weshalb durfte ich nicht einfach eine talentierte Frau sein?
Könnt Ihr Euch vorstellen, dass man mich, als ich mir bereits einen Namen im Kunstmarkt gemacht hatte, als «eine Künstlerin mit männlichem Talent» betitelte? Weshalb durfte ich nicht einfach eine talentierte Frau sein?
Wir konnten uns auch nicht frei bewegen, alleine reisen, alleine wohnen, das war alles unvorstellbar. Glücklicherweise hatte es das Schicksal gut mit mir gemeint, und mir immer einen «Anstandswauwau» zur Seite gestellt, mal in Form meiner Schwester, dann in Form meiner Mitstudentin Annie, so dass ich meinen Weg gehen konnte.
Auch der Umzug mit meiner Lebenspartnerin Elisabeth nach Frankfurt am Main war nicht ganz einfach. Aber sie hatte da die Chance bekommen ihre eigene Praxis zu eröffnen, obwohl sie in Deutschland oft als «Quacksalberin» betrachtet wurde, da sie kein deutsches Staatsexamen in Medizin hatte.
Ich vermisste das Bohème-Leben von Paris. Frankfurt konnte sich nicht gerade mit dem Titel einer Kunstmetropole schmücken. Aber das hatte auch seine Vorteile. In der Handelsstadt wohnten viele vermögende Familien, die sich porträtieren lassen wollten. Und die Konkurrenz war im Vergleich zu Paris sehr klein. So wurde ich mit meiner Silbermedaille von der Weltausstellung im Gepäck und meiner Ausbildung in den Ateliers von Paris zu einer gefragten Malerin.
Ein weiterer Rückschlag war eine schwere Handverletzung, die ich mir 1901 zuzog. Ich musste fast ein halbes Jahr pausieren, das schlug mir schon sehr aufs Gemüt.
Eine grosse Herausforderung waren die Weltkriege
Eine grosse und schmerzliche Herausforderung waren die Weltkriege. Bis 1914 besass ich noch immer ein Atelier in Paris, die Umstände aber erforderten, dass ich dieses aufgeben musste. Auch wurden die Materialien knapp, die Aufträge blieben aus. Es war fast unmöglich den Kontakt zu meinen Freunden in Frankreich und der Schweiz aufrecht zu erhalten.
Ich erlebte auch noch die Vorläufer des 2. Weltkrieges. Ich hatte viele jüdische Freunde und musste mitansehen, wie sie erniedrigt wurden, sie ihre Rechte verloren, und ihre Kunst zerstört wurde. Damit ich weiterhin künstlerisch tätig sein konnte, wurde ich Mitglied der Reichskammer der bildenden Künste, das war die einzige Möglichkeit, obwohl es natürlich ein moralisches Dilemma darstellte. Durch die Wirren dieser Zeit geriet ich für lange Zeit ziemlich in Vergessenheit.
Wahrscheinlich ging man davon aus, dass wir zwei einsame Jungfern waren
Lustigerweise war es nie eine Hürde, dass ich eine besondere Verbindung mit Elisabeth Winterhalter habe, dass ich mit ihr mein Leben teile. Ich habe sie noch am Tag unseres Kennenlernens meiner Familie vorgestellt und mein Vater unterstützte sie sogar finanziell, sowohl während des Studiums, wie auch bei der Eröffnung ihrer ersten Praxis.
Diesbezüglich war es eindeutig ein Vorteil, eine Frau zu sein. Dass zwei Männer zusammen wohnten war in unserer Zeit unvorstellbar, und wenn sie es doch taten, wurden sie beschimpft und man redete ihnen übel nach. Bei zwei Frauen war das aber kein Thema. Wahrscheinlich ging man einfach davon aus, dass wir zwei einsame Jungfern waren, die sich gegenseitig unterstützten…
Was sind die schönsten Momente in Deinem Berufsalltag?
Ich glaube, die schönsten Momente sind all die wunderbaren Bekanntschaften, die ich durch meine Tätigkeit machen durfte, und die Freundschaften, die daraus entstanden sind. Ich liebe es in fremde Länder mit meiner Partnerin oder meinen guten Freundinnen zu reisen, und vor Ort die Arbeit der lokalen Künstler zu studieren und mich inspirieren zu lassen. Oder auf Ausstellungen neue Tendenzen zu erforschen. Es ist unglaublich spannend wie sich die Kunst in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat.
Auch das Fördern von Frauen im Bereich der Kunst bereitet mir grosse Freude und Befriedigung. Wenn ich sehe, wie unsichere Mädchen – Rohdiamanten – zu Künstlerinnen werden. Privat geniesse ich es, mit meiner Elisabeth zu Berg zu gehen.
Denkst Du, es ist schwieriger, sich als selbstständig erwerbende Frau zu behaupten? Gibt es eventuell auch Vorteile, oder hast Du das Gefühl, dass das Geschlecht keine Rolle spielt?
Also zu meiner Zeit war es praktisch ein Ding der Unmöglichkeit. Erstens wurde man überhaupt nicht ernst genommen in seinem Wunsch selbstständig zu sein. Zudem hatten wir praktisch keinen Zugang zu den meisten öffentlichen Bildungsstätten. Wenn wir uns also in etwas Ausbilden wollten, musste das meist über teure Privatschulen geschehen, oder wie im Falle meiner Lebenspartnerin Elisabeth Winterhalter, über einen Umzug ins Ausland.
Ist es ein Kompliment, als «Frau mit einem männlichen Talent» betitelt zu werden?
Aber vor allem das nicht ernstgenommen werden in dem was wir tun ist sehr schmerzhaft und der stetige Vergleich mit dem männlichen Geschlecht. Ist es ein Kompliment, als «Frau mit einem männlichen Talent» betitelt zu werden?
Was würdest Du Frauen empfehlen, die sich gerne selbstständig machen möchten?
Wenn ihr dafür brennt, dann tut es! Aber von nichts kommt nichts. Ihr müsst für Eure Bestimmung leben, ihr müsst alles geben!
Gibt es etwas, was Du uns gerne auf den Weg mitgeben möchtest?
Ihr Frauen von heute, Ihr habt alle Freiheiten! Seid Euch dessen bewusst, seid dankbar und macht etwas daraus!
Danke vielmals liebe Ottilie, ich bin eine grosse Bewunderin von Deinem Handeln.
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Das Kunsthaus Zürich hat Ottilie W. Roederstein (1859 – 1937) eine Ausstellung gewidmet. Sie war nicht nur eine unglaublich vielseitige Künstlerin, sie war auch eine leidenschaftliche Kunstsammlerin und hat dem Kunsthaus zahlreiche Werke überschrieben.
Möchtet Ihr gerne mehr über ihr Leben und Schaffen erfahren? Dann stattet Ottilie doch einen Besuch im Kunsthaus Zürich ab, sobald es (hoffentlich am 23. Januar 2021) wieder öffnen darf.
Die monographische Werkschau dauert noch bis zum 5. April 2021.
Ich möchte mich herzlich beim Kunsthaus Zürich und der Kuratorin Sandra Gianfreda über die grosse Unterstützung bei diesem Interview bedanken. Auch der Ausstellungskatalog ist sehr inspirierend und enthüllt viele private und berufliche Details aus Ottilie W. Roedersteins Leben. Falls Ihr also noch nach einer Festtagslektüre sucht, kann ich Euch das Buch wärmstens empfehlen.